Allgemein

Wenn Pragmatismus immer mehr Pragmatismus verlangt

1. Was ich beim Parteitag von Bündnis’90/Die Grünen gesehen habe, hat mich positiv überrascht. Die Debatten waren kontrovers und lösungsorientiert. Es gab unterschiedliche Standpunkte, aber immer den Willen zu einem erfolgreichen Ergebnis. Die Grünen zeigen Qualitäten einer Volkspartei, auch wenn sie ein ganzes Stück davon entfernt sind, eine zu sein.

2. Inhaltlich tanzen die Grünen auf einer Rasierklinge: Einerseits einen kompletten Wandel zu versprechen und andererseits niemanden dabei zu verstören ist praktisch unmöglich. Baerbocks Rede beschwor im Kleinklein, dass beides zusammengehen könne. Das wirkte spröde und detailverliebt.

3. Überhaupt Baerbock: Der Hype dürfte vorbei sein und ich weiß nicht, wie er wiederkommen könnte. Sehr oft höre ich von ihren Parteikollegen, sie sei unfair behandelt worden. Ihre Fehler seien zu sehr ins Rampenlicht gezerrt worden. Das verkennt jedoch, dass sie vorher selbst auch zu ihrem Nutzen unverhältnismässig ins Rampenlicht gezerrt und glorifiziert worden ist.

4. Die klar beste Rede auf dem Parteitag hat Robert Habeck gehalten. Er ist ganz offensichtlich das „Brain“ hinter dem aktuellen grünen Erfolg. Den vom Bundesverfassungsgericht kommenden Ball so aufzunehmen und ausgerechnet unter dem Leitgedanken „Freiheit“ (Gruß an Lindner) eine Erzählung anzubieten, die den eigenen Laden zusammenhalten kann – das war grandios.

5. Deshalb frage ich mich auch immer mehr, ob ihre Nominierung für die Grünen nicht die falsche Entscheidung gewesen ist. Sie ist frech, mutig, eloquent, erhielt viel Aufmerksamkeit. Aber erhielt sie diese nicht aufgrund von Geschlechterklischees, gegen die man doch gerade ankämpfen will?

6. Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, dass Baerbock es ins Kanzleramt schaffen kann. Laschet wird punkten als einer, der maßvolle Politik verspricht – und jene weiter einsammeln, denen er zwar nicht kernig genug ist, die aber Angst vor den Grünen haben.

7. Für die Grünen entsteht dann eine sehr schwierige Situation. Man hat die Idealisten auf einen „pragmatischen“ Kurs gebracht und wird nach der Wahl wahrscheinlich Dinge mittragen müssen, die auch den Pragmatikern eher nicht reichen. Dennoch werden alle der Macht zuliebe noch pragmatischer werden müssen. Die CDU/CSU weiß sehr gut, wie man mit kleineren Koalitionspartnern umgeht.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz