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Interview: Die Zukunft der CDU

Anfang September 2021, kurz vor der Bundestagswahl, wurde ich von einer schweizerischen christdemokratischen Zeitschrift interviewt über die Zukunft der CDU. Die in französischer Sprache gedruckte Version ist ganz unten als Download verfügbar.

Nach 16 Jahren im Kanzleramt steht Angela Merkel kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt. Welches Erbe wird sie ihrer Partei, der CDU, hinterlassen?

Angela Merkel hat die CDU nach dem wenig eleganten Ende der Kohl-Ära wieder auf die Beine gebracht, die Partei nach einem wackligen Einstieg unangefochten dominiert und stabilisiert. So wurde die Partei (gemeinsam mit der bayrischen Schwesterpartei CSU) nach einer historisch kurzen rotgrünen Phase erneut und für eineinhalb Jahrzehnte die prägende politische Kraft in Deutschland.

Merkel hat die CDU und deren Politik pragmatisch und im Einklang mit sich verändernden Wertevorstellungen im Land modernisiert, in einer sich beständig fragmentierenden Gesellschaft für neue Wählerreservoire erschlossen und damit den Status der CDU als Volkspartei gewahrt. Sie hat die Partei für neue politische Bündnisse geöffnet. Als Frau hat sie viel für die Emanzipation von Frauen, als Ostdeutsche viel für das Ankommen der ehemaligen DDR-Bürger in der nun gemeinsamen Bundesrepublik getan, gerade weil sie so selbstverständlich mit diesen Aspekten ihrer Persönlichkeit umgegangen ist.

Sie hat mit ihrer nüchternen, unprätentiösen, pflichtbewussten, menschlichen, uneitlen und selbstironischen Art viel Gutes für die demokratische Kultur im Land und für das Ansehen von Politikern getan. Sie hat bewiesen, dass wahre Macht etwas anderes ist, als Dominanzgehabe. Wohl auch deshalb wurde sie zur zentralen und prägenden Figur bei der Bewältigung gleich mehrerer europäischer Großkrisen: Der Finanz- und Staatschuldenkrise, der Flüchtlingskrise, des Brexits, der Trump-Phase transatlantischer Entfremdung und schließlich der Corona-Krise.

Mit Abstand wird wahrscheinlich aber auch die Kehrseite der alles in allem positiven Bilanz noch sichtbarer werden. Angela Merkel hat den Führungsstil perfektioniert, Probleme erst dann anzupacken, wenn sie vor aller Augen unzweifelhaft als Probleme erkennbar waren, um dann ohne große Debatten das von breiten Mehrheiten Gewollte durchzusetzen. Sie hat keine positive Agenda, keine klar benannten Ziele verfolgt, sondern primär und ziemlich erfolgreich vermieden, in die Defensive zu geraten. Machtpolitisch ist dies außerordentlich beeindruckend. Dem Land und besonders der eigenen Partei hat sie so aber das Debattieren und die Zukunftslust ausgetrieben. Sie hinterlässt eine Vielzahl bislang vernachlässigter, dringend zu bearbeitender Probleme und Herausforderungen, sowohl auf deutscher, als auch auf europäischer Ebene.

Armin Laschet, wird oft als politisch sehr nah an Angela Merkel stehend dargestellt. Aber was unterscheidet ihn von der Bundeskanzlerin?

Oberflächlich betrachtet ist Armin Laschet in vielerlei Hinsicht sehr anders als Angela Merkel: Hier der ehemalige Journalist von der westlichen Grenze, ein Katholik, geprägt von der katholischen Soziallehre und von den Erfahrungen der Brüsseler Parlamentsarbeit, herzlich, zugewandt, emotional, tief verwurzelt in Traditionen, Vorsitzender des größten Landesverbandes und Ministerpräsident des stärksten Bundeslandes. Dort die Physikerin aus dem Osten, nüchterne Protestantin, geprägt vom Leben in der DDR, den Träumen vom Westen und den USA und der chaotischen Wendezeit, oft etwas spröde, mit einem eher feinen Humor und an die Macht gekommen ohne relevante Machtbasis, ohne sich in jahrelangen Kämpfen an der Spitze bewährt zu haben.

Auf den zweiten Blick haben beide vieles gemeinsam: Die Verwurzelung im christlichen Glauben, eine gewisse Demut vor Macht, sowie beständige Selbstkritik. Beide kamen nach oben nicht obwohl, sondern weil sie unterschätzt wurden (was in der CDU eine lange Tradition seit Adenauer und Kohl hat). Beide kamen an die Spitze der Partei in einer Zeit tiefer Spaltung und Verunsicherung. Beiden ist ideologisches Denken fremd.

Mir scheint, dass Laschet Konflikte eher institutionalisiert und aushält, etwa indem er sich in Nordrhein-Westfalen Repräsentanten unterschiedlicher Parteiflügel an den Kabinettstisch geholt hat. Merkel hingegen hat Widersacher immer eher isoliert und kaltgestellt. Ich habe auch den Eindruck, dass Laschet weniger abgebrüht und rücksichtslos mit Koalitionspartnern umgeht als Merkel. Beides stimmt mich durchaus hoffnungsvoll für die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl.

In Europa befinden sich alle Parteien der Christdemokratie seit mehr als dreißig Jahren in einer tiefen Krise, aber die CDU war bisher die Ausnahme. Glauben Sie, dass diese Zeit vorbei ist?

Offensichtlich ist es der CDU ab den späten 1980ern und dann wieder ab 2005 gelungen, so prägend Macht auszuüben, dass innere Konflikte kleingehalten werden und populistische Versuchungen im Keim erstickt werden konnten. Insofern wird die CDU nicht zufällig in Zeiten des Übergangs und nach dem Abgang der für lange Zeit prägenden Angela Merkel von solchen Versuchungen heimgesucht.

In einer immer komplexeren Welt sehnen sich viele nach Orientierung in schlichter und einfacher Form. Die „sozialen“ Medien mit ihrer Zuspitzung auf exakt einen, möglichst emotionalen Gedanken bevorteilen jene, die fähig und bereit sind, Parolen als Politik zu verkaufen. Eine breit aufgestellte Volkspartei mit unterschiedlichen Interessen kann man so nicht zusammenhalten. Die CDU erlebt aktuell Herausforderungen, an denen andere längst gescheitert sind. Hoffentlich kann sie von den Erfahrungen der anderen lernen!

Inwiefern bringt diese kritische Entwicklungsphase der CDU in schwache Position bei der Bundestagswahl?

Durch die CDU geht ein tiefer Riss: Auf der einen Seite befinden sich Menschen, die sich selbst als Modernisierer begreifen. Ihnen schwebt eine schlagkräftige, medienkompatible, auf einen starken Anführer ausgerichtete Bewegung etwa nach dem Beispiel der ÖVP unter Sebastian Kurz vor. Sie wünschen sich eine Partei, die schnell agiert, medial beeindruckt, klare Botschaften transportiert. Diese Gruppe sieht sich als Spitze eines notwendigen Fortschritts und fühlt sich durch das Parteiestablishment ausgebremst.

Auf der anderen Seite stehen die Traditionalisten oder Anhänger der Idee einer Volkspartei, denen es um die etablierten Gremien und Entscheidungswege geht. Aus ihrer Sicht speist sich die Stärke der CDU aus ihrer internen Vielfalt: Lösungen, die zwischen Wirtschafts- und Arbeitnehmerflügel, zwischen Jugend- und Seniorenvereinigungen oder zwischen den regionalen Landesverbänden erstritten wurden, konnten historisch betrachtet sehr oft zu Blaupause für parlamentarische Einigungen werden und den Weg zu einem gesellschaftlichen Konsens weisen. Aus ihrer Sicht riskieren die innerparteilichen Gegner nicht nur den Erfolg, sondern den Bestand der CDU.

Den Verfechtern der CDU als einer politischen Bewegung gilt als hinderlich, was für die Anhänger der CDU als Volkspartei prägend ist: Langsamkeit, Respekt, Ambivalenz, Vertrauen, Loyalität. Sie konnten aber weder Friedrich Merz als Vorsitzenden noch Markus Söder als Kanzlerkandidaten durchsetzen. Diese Niederlagen akzeptieren sie faktisch nicht. Ein Großteil der negativen Kampagnen gegen Laschet wird aus der eigenen Partei heraus befeuert, von den anderen Parteien aber natürlich dankbar aufgenommen.

Bedeutet das, dass innere Zerstrittenheit den Erfolg der CDU gefährdet?

Natürlich ist es vorstellbar, dass die Unfähigkeit, einvernehmlich die Merkel-Nachfolge zu regeln, die Partei so viele Stimmen kostet, dass sie in der Opposition landet. Dann wären nicht einzelne Flügel, sondern die CDU insgesamt gescheitert und alle müssten sich fragen, was sie besser hätten machen können.

Ich bin aber für Vorsicht bei Voraussagen: Erstens sind die Umfragen so volatil und Überraschungen bei Wahlen so häufig, dass man Stand heute (3 Wochen vor der Wahl) mit jeder Prognose vorsichtig sein sollte. Zweitens kann auch ein vermeintlich schwaches Ergebnis im Koalitionspoker noch gewendet werden. Mir erscheint wahrscheinlich, dass am Ende alles davon abhängen könnte, ob es Laschet gelingt, die Grünen herüberzuziehen in ein Dreierbündnis mit Union und FDP, oder ob Scholz die FDP an die Seite von SPD und Grünen holen kann. Und sollten beide scheitern, könnten sich wie beim letzten Mal auch wieder die „großen Parteien“ aufeinander zu bewegen, auszuschließen ist gar nichts. Das können spannende Wochen oder gar Monate werden, die aus heutiger Sicht nicht voraussagbar sind.

Ich finde aber, dass man sich auch klar machen muss, dass es gerade im internationalen Vergleich und historisch betrachtet Wahnsinn wäre, wenn es der CDU gelänge, nach 16 Jahren an der Macht das Kanzleramt mit einem neuen CDU-Kanzler zu besetzen. Zu erwarten, dass die übrigen Parteien in dieser Situation nicht von einer Lust auf grundsätzliche Veränderungen profitieren würden, wäre weltfremd. Abstrakt gesehen lebt Demokratie auch vom Wechsel und davon, dass staatliche Institutionen von Zeit zu Zeit in die Hände anderer Parteien geraten. Wobei wir Christdemokraten natürlich so selbstverständlich an der Macht hängen (und hängen dürfen!), wie jede andere Partei auch.

Hat die CDU nach 16 Jahren an der Macht nicht ihre Fähigkeit verloren, die tiefgreifenden Veränderungen in der deutschen Gesellschaft wahrzunehmen und sich endgültig von der Realität der Deutschen und ihren Wünschen nach bestimmten Veränderungen abgekoppelt?

Das glaube ich nicht. Merkel wurde und wird ja vor allem dafür kritisiert, dass sie den tiefgreifenden Veränderungen in der deutschen Gesellschaft zu bereitwillig aufgegriffen und die Wünsche der Deutschen ohne ausreichenden Widerstand erfüllt habe, etwa bei der Abschaffung der Atomenergie, der Aussetzung der Wehrpflicht oder der Einführung der Homoehe. Vielen Konservativen gilt sie als zu veränderungsfreudig.

Dass die CDU aktuell in der Klimapolitik einen vorsichtigeren Ton anschlägt, als etwa die Grünen, entspricht den Wünschen ihrer Klientel. Natürlich ist es aus Sicht der Aktivisten von Fridays for Future extrem störend, wenn Laschet an die Interessen der vom PKW abhängigen Landbevölkerung, an die Arbeitskräfte in energieintensiven Branchen oder an einkommensschwache Hausbesitzer erinnert. Es ist aber legitim und ehrenwert, diese Interessen großer Gruppen in der Bevölkerung aufzugreifen. Es ist sogar geradezu notwendig, dass diese sich gehört, verstanden und berücksichtigt fühlen, wenn man zu breit mitgetragenen klimapolitischen Maßnahmen kommen will.

Wenn die CDU bei der nächsten Bundestagswahl scheitert, riskiert die Partei dann, in eine noch tiefere innere Krise und Spaltung zu geraten?

Wenn, wie in einigen Umfragen momentan vorhergesagt, bis zu einem Drittel der bisher 245 Bundestagsmandate der Union verlorengingen, entstünde sehr viel Unzufriedenheit. Wenn zudem sämtliche Ministerien geräumt werden müssten, würden viele Karrierepläne und Zukunftshoffnungen zerstört. Natürlich kämen dann auf die Partei eine Phase gegenseitiger Schuldzuweisungen zu, voraussichtlich auch neuerliche Machtkämpfe.

Die CDU ist aber bereits jetzt in einer tiefen Krise, aus der sie herausfinden muss. Das hat sie schon öfter geschafft. Sie ist erkennbar ein Erfolgsprojekt, hat in 52 von 72 Jahren seit 1949 den Kanzler gestellt und die deutsche Politik geprägt. Sie besetzt verantwortliche Posten auf allen politischen Ebenen von den Kommunen, über die Kreise, die Länder und den Bund bis zur EU.

Alle wissen, dass die Erfolgsgeschichte nur weitergeschrieben werden kann, wenn man sich wieder sortiert und hinter gemeinsamen Zielen versammelt. Vieles muss sich ändern, und zwar unabhängig davon, ob uns diese Wahl in eine noch tiefere Krise stürzt oder ob wir fürchten müssen, dass uns das bei der nächsten Wahl passiert.

Was halten Sie für Ziele, hinter denen man die CDU wieder einen kann?

Diejenigen, die sagen, dass die CDU zu patriarchal sei, zu sehr aus Hinterzimmern gesteuert werde, zu wenig offenen Wettbewerb zulasse, haben Recht! Diejenigen die sagen, dass die CDU nur geeint durch verlässliche innerparteiliche Demokratie erfolgreich sein kann, haben aber auch Recht! Wer den gemeinsamen Erfolg will, wird die Kritik der anderen Seite als gerechtfertigt anerkennen müssen. Auf dieser Basis könnte man dann die CDU zu einer Volkspartei entwickeln, die die gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte als Herausforderung annimmt.

Vorhin habe ich gesagt, dass Angela Merkel mit ihrem Politikstil der CDU das Debattieren abgewöhnt hat. Zukunftsfragen wurden nicht diskutiert, solange sie weit weg schienen. Nachdem sie dann dringend geworden waren, blieb regelmäßig auch keine Zeit zum Überzeugen, die Partei hatte zusammen zu stehen. Wir müssen wieder lernen zu streiten, um in Konkurrenz zu den anderen Parteien kritische Geister überzeugen und neue Ziele vorantreiben zu können.


Wir müssen die Digitalisierung für eine moderne Volkspartei zu nutzen lernen, statt uns von der Logik der sozialen Medien zu Anhängern einer tumben Masse hinter vermeintlich starken Anführern machen zu lassen.

Wir brauchen Beteiligungsmöglichkeiten für Menschen mit Familie und mit Verantwortung jenseits der Politik. Wir brauchen innerparteiliche Auswahlverfahren für Ämter und Mandate, die so offen und qualifikationsorientiert sind, dass sich die Besten durchsetzen. Auch jene, die nicht seit Jahrzehnten ihre Chance durch treue Präsenz auf langweiligen Sitzungen erkämpfen, sondern inzwischen die Welt, Europa oder ein anderes Bundesland gesehen haben.

Überhaupt Europa: Eine europäische Demokratie braucht europäische Parteien. Jeder Orts- und Kreisverband der CDU ist auch ein Orts- und Kreisverband der EVP mit Freunden und Mitstreitern in ganz Europa. Was das bedeutet und wieviel Potential darin steckt, haben wir bei weitem noch nicht begriffen.


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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz