Europa erlebt eine Krise in der ursprünglichen, der griechischen Bedeutung des Wortes: Eine instabile Situation in der sich der Lauf der Dinge, die grundsätzliche Richtung entscheiden wird.
Eine Menge, wenn nicht alles, scheint auf dem Spiel zu stehen. Und selbst wenn Populisten ihre Stunde gekommen sehen, bin ich dennoch überzeugt, dass das was wir erleben die europäische Idee nicht gefährden wird, wenn wir die anstehenden Probleme kreativ lösen und unseren Überzeugungen treu bleiben.
Die Krise führt uns die Unzulänglichkeiten des politischen Rahmens der Währungsunion vor Augen. Wie so oft bei der Entwicklung der Europäischen Union sind wir vorangegangen, ohne auf alle denkbaren und möglichen Entwicklungen und Probleme vorab vorbereitet gewesen zu sein. Dies ist seit Jahrzehnten unsere Strategie gewesen, weil wir schon in den 1950ern gelernt haben, dass wir niemals mit allen Beteiligten abstrakt und im voraus alle vorstellbaren künftigen Entwicklungen würden diskutieren können, während wir allerdings zu jeder Zeit angemessene und wirksame Mittel im Umgang mit konkreten Herausforderungen finden konnten.
Niemand zweifelte in den 1990ern, dass die Währungsunion mehr ökonomische und fiskalische Koordination erfordern würde. Aber während einige mehr Finanzdisziplin und -kontrolle forderten, wollten andere eher bei mehr ökonomischer Koordination ansetzen. Diese Grundsatzentscheidung wurde aufgeschoben, als Ersatz diente mit dem „Stabilitäts- und Wachstumgspakt“ ein dürftiger Kompromiss, der nicht durchgesetzt und daher auch von niemandem respektiert wurde.
Solange es um potentielle Probleme ging, konnten wir uns nicht auf Lösungen einigen. Nun sind die Probleme real geworden. Wir sind in einer Krise, die in jedem Fall einen Wendepunkt darstellen wird. Entweder hin zu einer Konsolidierung der Währungsunion durch einen angemessenen politischen Rahmen. Oder hin zu einem neuen Währungssystem. Wie immer in der Entwicklung der EU wird das Ergebnis neuartig und ohne historisches Vorbild sein. Und es wird wiederum zu neuen Herausforderungen führen.
Aktuell scheinen mir einige Punkte häufig missachtet oder implizit in Frage gestellt, die allerdings für die Zukunft nicht weniger wichtig sein werden, als sie in der Vergangenheit gewesen sind:
- “Europa” ist notwendig; die geografischen und die demografischen Bedingungen auf dem Kontinent haben sich durch die Krise so wenig geändert, wie die Lehren aus der Vergangenheit.
- “Europa” ist nicht der Euro, wichtige Errungenschaften wie die europäischen Freiheiten dürfen niemals an das Schicksal der gemeinsamen Währung gebunden werden. Die Währungsunion in ihrer gegenwärtigen Form hat Konstruktionsfehler, um die wir uns kümmern müssen. Das ist alles, und es ist Herausforderung genug.
- „Europa“ ist ein Mittel, es ist kein Ziel an sich. Kein politisches Konstrukt verdient Unterstützung, wenn es sich als nicht effizient und seinen Bürgern dienlich erweist. Dort wo dies bezweifelt wird, ist schlichtes Abstreiten keine Lösung.
- „Europa“ ist eine beständige Aufgabe. Noch nie konnte man behaupten, es sei fertig und perfekt. Jede Institution und jeder Vertrag verdient Kritik. Im übrigen muss man konkrete Ergebnisse immer getrennt von der dahinterstehenden europäischen Idee sehen und bewerten, weil letztere sonst zur Ideologie verkommt. Wie jede andere politische Idee bleibt auch die von der Vereinigung des Kontinents nur dann am Leben und relevant, wenn sie fortgesetzt herausgefordert wird und dies auch zulässt.
- Europäische Lösungen tragen weiter als nationale. Administrative und institutionelle Strukturen, die den ganzen Kontinent in den Blick nehmen, waren und bleiben in unser aller Interesse, weil nur sie geeignet sind, Dominanz einzelner Staaten und daraus erwachsende Spannungen sowie Misstrauen zu vermeiden. Auch kann Europa nur gemeinsam Einfluss im globalen Maßstab behalten.
Über Jahrhunderte lebten wir Europäer in einer oft problematischen gegenseitigen Abhängigkeit. Seit dem zweiten Weltkrieg haben wir gelernt, wie wir alle von einem ständigen Prozess der Suche nach gemeinsamen Problemlösungen profitieren können. Wir haben vergleichbare Rechte und Verpflichtungen für alle Europäer geschaffen. Und wir haben erfolgreich dafür gesorgt, dass sich kein Land auf Dauer Vorteile auf Kosten seiner Nachbarn verschaffen kann. Das ist sehr viel. Und es ist aller Mühen wert.
Diejenigen, die auf diesem Weg weitergehen wollen, beschweren sich oft darüber, dass „Europa“ nicht die nötige Aufmerksamkeit zukomme. In der jetzigen Situation zweifelt niemand, dass Europa wichtig, ja entscheidend ist. Niemand kann Europa ausweichen, niemand kann es missachten, niemand kann behaupten, damit habe er nichts zu tun, er sei nicht angesprochen oder nicht betroffen. Jetzt steht Europa im Zentrum. Es ist nicht nur mehr ein Traum, eine Vision, eine Hoffnung. Es ist politische Realität, mit allen Mängeln und Risiken, die reale Phänomene von fantastischen Ideen unterscheiden.
Wenn wir uns wirklich sicher sind, dass die europäische Einigung der richtige Weg ist, dann müssen nun auch alle Probleme auf den Tisch. Alles was bisher erreicht wurde, muss auch diskutiert und in Frage gestellt werden dürfen, um wirkliche Lehren zu ziehen und Verbesserungen zu erreichen.
Deshalb ist es Zeit für Diskussionen, für den Austausch auch unterschiedlichster Standpunkte, Zeit für normale, für demokratische Politik. Es ist Zeit zuzuhören, nachzudenken und Ideen beizutragen.
Dieser Beitrag ist in englischer Sprache unter dem Titel „Are there Citizens of Europe?“ im Jahrbuch des Vereins Citizens of Europe auf Seite 52f. erschienen.