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Sind Russinnen und Russen „Feinde“?

Überall höre ich, man müsse klare Kante gegen Russinnen und Russen zeigen, die sich nicht ausdrücklich vom Kreml distanzieren. „In dieser Lage ist keine Position auch eine Position.“ Ich will das gar nicht diskreditieren. Wer es (wie ich) für das Hauptproblem hält, dass der Kreml das russische Volk manipuliert und dass er seine Machtinteressen auch zu dessen Lasten durchsetzt, muss auch darauf hinweisen, wenn jemand mithilft.

Ich höre und lese nun aber von vielen Russen, die sich herabgewürdigt fühlen, noch bevor sie eine Chance hatten, sich zu verhalten. Auch von Kindern. Und auf der anderen Seite von Menschen, denen russische Verwandte übelste Vorwürfe machen, bei denen familiäre Kontakte aufgekündigt werden. Ich sehe, dass zu Beginn des Krieges auf Profilfotos platzierte ukrainische Flaggen wieder verschwinden. Oder ganze Facebook- und Instagram-Accounts, gerade solche, die politischen Charakter hatten. Ich höre, dass russische ehemalige Schul- und Studienfreunde Kontakt aufnehmen, auf „ungesetzliches“ Verhalten hinweisen, wenn jemand von „Krieg“ schreibt, dass wüste Drohungen ausgesprochen werden. Dass Menschen sich darauf einrichten, ihre Familien lange nicht zu sehen und sehr darunter leiden.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir den ganzen Konflikt ohne einen Sturz Putins bestenfalls einhegen können. Wir sind auf demokratisch orientierte, selbständig denkende, mutige Russen unbedingt angewiesen, wenn wir diesen Konflikt gewinnen wollen. Das Bewusstsein dafür scheint mir bei weitem noch nicht ausreichend ausgeprägt.

Und auch ohne taktisch zu denken, ist niemand aufgrund seiner Nationalität in „Sippenhaft“ zu nehmen. Wer hier lebt, hat Anspruch auf Respekt und Fairness – und auf Verteidigung seiner Grundrechte.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz