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Hauptsache Siegerpose

Nachdem ich intensiv versucht habe, alles für mich Verfügbare über den Stand der Verhandlungen zwischen der EU und dem UK zu sichten, möchte ich die Aussage wagen, dass der rechtzeitige Abschluss eines Abkommens nicht unwahrscheinlich ist.

Die EU steht geschlossen, im Rat halten die Regierungen zusammen und auf Seiten der Kommission arbeitet Barnier mit Rückendeckung der Kommissare konzentriert und mit ruhiger Hand.

Johnson hat heute die Medien aufgescheucht mit der Aussage, die EU müsse ihren Verhandlungsansatz grundlegend ändern. Hinter diesem Getöse verdeckt er aber, dass er nach Ablauf des 15. Oktober (also heute!) den Verhandlungstisch verlassen wollte, wenn es nicht in seinem Sinne läuft. Und er geht selbstverständlich nicht. Er bricht sein Wort. Und verdeckt dies.

Wenn es nun in 2-3 Wochen zu einem Abschluss kommt. wird in Großbritannien der breiten Öffentlichkeit nicht auffallen, dass die EU sich nicht wesentlich bewegt hat, aber Johnson wird herumstolzieren, als habe er gewonnen.

In der Sache scheint es so zu sein, dass die Briten ihre harte Haltung bei der Gültigkeit von EU-Standards längst aufgeweicht haben und sich auf die EU zubewegen. Bei der Streitschlichtung wird etwas Gesichtswahrendes her müssen, was vielleicht nicht Europäischer Gerichtshof heißt, aber genauso funktioniert.

Damit die Briten bei beidem mitgehen, könnte die EU den Zugang zu britischen Gewässern am Ende (teilweise?) preisgeben müssen. Hier liegt aber längst das Geld für eine Entschädigung der betroffenen Fischer aus dem Unionshaushalt auf dem Tisch (was wiederum für die umsichtige Arbeit von Barnier und Michel spricht). Und auf’s Ganze gesehen ist die Fischerei ein Nebenaspekt, der lediglich symbolisch aufgeladen ist.

Für eine Einigung spricht meiner Meinung nach auch, dass Johnson die Substanz seiner Politik schon immer egal war, während er sehr darauf achtet, sich gut zu verkaufen. Chaos zum Jahreswechsel und Proteste sowie die Notwendigkeit zur Bittstellerei in Brüssel kann er nicht gebrauchen. Ein gut inszeniertes Verhandlungsergebnis, bei dem man z.B. stolz verkünden kann, dass die Briten ihren Fisch jetzt selbst fangen können und ihnen der EUGH nichts zu sagen habe, reichen ihm aber.

Zumal auf den Brexit – abgesehen von den Experten und den Wirtschaftsvertretern – gegenwärtig im UK eh keiner mehr schaut. Und ausgerechnet diese Gruppen werden insgeheim erleichtert sein.Soweit meine heutigen Gedanken – in aller Vorsicht. Ein wirklich großer britischer Premierminister sagte einmal: „Vorhersagen sind schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.“

10Fred Kling, Ary Spamm und 8 weitere Personen7 Kommentare

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz