Allgemein

Wer zu spät kommt, muss sich anstrengen!

Die europapolitischen Diskussionen der letzten zwei Jahrzehnte waren geprägt von der Frage, was man sich wünschen solle oder dürfe. Nicht wenige wollten zur Jahrtausendwende den Weg zu bundesstaatlichen Strukturen gehen. Die Absicht, über mehr Zusammenarbeit zu immer größerer europäischer Abhängigkeit zu kommen, wurde allerdings zum Bumerang: Im Irrglauben, so nationale Handlungsfähigkeit erhalten zu können, formierte sich Widerstand gegen das Vorhaben. Am Ende wurde ein durch Debatten über Begrifflichkeiten überdeckter faktischer Beinahe-Konsens in den für Nichtjuristen unlesbaren Text des Vertrags von Lissabon gegossen. Man glaubte, die Autonomie der Regierungen der Mitgliedsstaaten gegenüber den gemeinschaftlichen Institutionen verteidigt zu haben und gab sich der Illusion hin, nun müsse für 20 Jahre Ruhe herrschen.

In der Staatsschulden- und Eurokrise offenbart sich die Naivität dieser Hoffnungen. Zutage getreten ist eine ungeahnte gegenseitige Abhängigkeit und ein unentrinnbarer Sachzwang zur Zusammenarbeit. Die Realität ist den Politikern und der Einschätzung der allermeisten Bürger und Experten enteilt. Europa offenbart sich als Schicksalsgemeinschaft. Faktische Abhängigkeiten lassen selbst mühsam ausgehandelte Vertragstexte zur Makulatur werden. Bis heute erweist sich die Union als in ihrer gegenwärtigen Struktur kaum regierbar, die europäische Politik ist institutionell und konzeptionell nicht auf der Höhe der Erfordernisse. Sie gestaltet nicht, sie zurrt lediglich auf regelmässigen Gipfeln das Unvermeidliche fest, um dem kompletten Kontrollverlust zu entgehen, dem die Mitgliedsstaaten für sich genommen längst anheim gefallen sind.

Unter diesen Umständen ist die Demokratisierung und effizientere Ausgestaltung der Europäischen Union ein Akt der dringend erforderlichen Anpassung an die ganz realen und akuten Erfordernisse. Das nun verabredete Korsett des Fiskalpakts mag den Patienten Europa stabilisieren und ihm eine Genesung grundsätzlich ermöglichen. Zur vollständigen Erholung und zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben braucht die EU mentale Stärke (qua klarer Ziele) und die aus guter Koordination erwachsende Fähigkeit zur souveränen Bewegung im politischen und wirtschaftlichen Umfeld. Die Weiterentwicklung der EU im Dialog der Bürger mit den Volksvertretern ist heute kein visionäres Vorauseilen, sondern erweist sich als dringlicher Nachholbedarf.

(Dieser Artikel ist erschienen beim ‚European Circle‚)

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz