Allgemein europäisch

Das europäische Projekt bleibt für uns Deutsche elementar

Die EU folge einer illusorischen Vorstellung, so der ehemalige Brüssel-Korrespondent des Bayerischen Rundfunks aus Anlass des 3. Oktober 2019 bei EURACTIV. Drei Tage später habe ich ihm mit einem eigenen Beitrag widersprochen.

Sein Beitrag: „Die EU ist kein Staat sondern eine Vertragsgemeinschaft

Foto: Pietro Naj-Oleari, European Parliament

Schablonen helfen nicht weiter – die Zukunft will erfunden und errungen werden

Gerhard Losher Helmut Kohl das Ansinnen zu, gleichzeitig mit der Deutschen Einheit in Europa „ein föderales System vereinter Staaten nach dem Vorbild Deutschlands“ zu schaffen. Dieses sei nicht aufgegangen, habe nicht aufgehen können, weil die EU-Staaten nicht zur Souveränitätsaufgabe bereit seien. Ohne Staatlichkeit sei für die EU aber auch der erforderliche Bedarf an demokratischer Legitimation „zwangsläufig geringer als vielfach angenommen“, mithin sei die Parlamentarisierung der EU ein Irrweg. Als „Projekt- und Aufgabengemeinschaft“ unterschiedlicher Geschwindigkeiten und unterschiedlicher Vertiefung müsse die EU in der Verantwortung der Nationalstaaten bleiben.

Losher verkennt damit nicht nur das pragmatische und an langfristigen Prozessen orientierte Denken des Altkanzlers, sondern auch die fundamental neue Qualität, die die europäische Integration für die politische Ordnung des Kontinents bedeutet. Sein Artikel wirft mit Begrifflichkeiten aus der Zeit des nationalstaatlich verfassten Europas herum, ohne sich um deren Inhalt und Relevanz zu scheren. Er tut, als ob der Ansatz der europäischen Integration dogmatisch sei, während er selbst für flexiblen Pragmatismus eintrete – dabei verhält es sich genau betrachtet umgekehrt. Er verkennt die Alltagsrelevanz europäischer Politik und den Ursprung und die Aufgabe des Parlamentarismus. Und er diffamiert als weltfremde Marotte Helmut Kohls, was von fundamentalem Belang für Stabilität, Demokratie und Selbstbestimmung auch in Deutschland ist. Aber der Reihe nach.

Die EU steht für etwas grundsätzlich Neues

Europa ist ein Kontinent, auf dem sehr viele, sich als unterschiedlich begreifende Menschen so eng zusammenleben, dass sie immer ein gemeinsames Schicksal geteilt haben. In guten Zeiten inspirieren wir uns gegenseitig und treiben einander zu Höchstleistungen an – in Wissenschaft, Kultur, Technologie, Wirtschaft, Sport und Politik. In schlechten Zeiten haben wir einander alles geneidet und uns mit katastrophalen Folgen gegenseitig bekämpft.

Die Europäische Union ist der sehr erfolgreiche Versuch, unserem Kontinent eine neuartige politische Struktur zu geben. Eine Struktur, die dem Austausch und auch dem friedlichen Wettbewerb Raum schafft. Die allen – auch den Kleinsten und Schwächsten – Rang, Status und Gelegenheit zu Mitsprache und Teilhabe gibt. Und die durch gemeinsame Institutionen dafür sorgt, dass aus der gegenseitigen Abhängigkeit keine Dominanz der Großen resultiert und dass niemand sich zu Lasten der Nachbarn Vorteile ergaunern oder Probleme vom Hals schaffen kann.

Jean Monnet, Robert Schuman, Winston Churchill, Marga Klompé, Konrad Adenauer, Paul-Henri Spaak, Alcide de Gasperi und den anderen geistigen Vätern und Müttern ging es nie nur darum, „durch die Zusammenlegung von Ressourcen den Frieden zu sichern“. Ihr Leben lang haben sie betont, dass ihr Handeln einen ganz neuen Anfang markierte, eine grundsätzlich neue Art, in Europa Politik zu denken und zu machen. Erfolgreich wurde die europäische Einigung, weil man sich nicht mit Prinzipienreiterei aufgehalten, sondern einfach angefangen hat.

Die EU hat staatliche Funktion und sichert Souveränität

Die EU hat hoheitliche Aufgaben, setzt Recht und hat eine Gerichtsbarkeit. Zusätzlich ist sie Rechtsperson im Völkerrecht. Ob man infolge dessen unter Verfassungsrechtlern das Konzept von Staatlichkeit so erweitert, dass sie miterfasst wird, oder ob man sie als etwas gänzlich Neues mit staatlichen Eigenschaften charakterisiert, ist eine rein definitorische Frage. Politisch ist es ohne Belang.

Auch das hier wie so oft ins Feld geführte Konzept der Souveränität trägt nicht, wenn es die Realität nicht abbildet. Verstanden als das exklusive Recht eines Akteurs, bestimmte Probleme zu lösen, führt es zu Unmündigkeit und Irrelevanz, wo dieser dazu objektiv nicht in der Lage ist. „Nationale Souveränität“ ist schon im Zeitalter der Nationalstaaten und der damals dominierenden Großmächte für beinahe alle Staaten eine Fiktion gewesen. Sie ist es erst recht im Zeitalter globaler Waren- und Datenströme sowie (zumindest in Europa) grenzüberschreitend organisierter Interessen.

Souverän ist, wer seine Lebensweise selbst bestimmen und seinen Vorstellungen Geltung verschaffen kann. In Anbetracht des Aufstiegs des autoritären Chinas Menschenrechte und individuelle Freiheit hochhalten, gegenüber einem imperialen Russland die europäische Staatenordnung verteidigen, Steuereinnahmen auch von globalen Konzernen sichern und die Freiheit des Einzelnen auch im Internet durchsetzen – all das kann in Europa ganz eindeutig nur die Europäische Union als Verbund ihrer Staaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Die EU ist Inbegriff politischer Flexibilität und Kreativität

Der Vorwurf, die EU sei eine irgendwie dogmatische, ideologiegetriebene Veranstaltung, die sich mit einer für sie unliebsamen Realität endlich arrangieren müsse, geht vollkommen in die Irre. In der EU wurden von Anfang an ganz pragmatisch Charakteristika eines Staates mit denen einer internationalen Organisation kombiniert. Sie ist ein Gebilde sui generis, also eigener Art: Ohne Vorbild, ohne Referenz und mit ungewisser Zukunft. Das Aushalten dieser Unbestimmtheit hat zu kreativen Höchstleistungen geführt.

Mit der EU haben sich die Europäerinnen und Europäer einen ungewöhnlich großen Werkzeugkasten für die Lösung von Problemen geschaffen. Die Union kann wie ein Staat unmittelbar gültiges Recht setzen und durchsetzen. Sie kann wie eine internationale Organisation die Aktivitäten ihrer Mitgliedstaaten (oder auch nur eines Teils von ihnen) ermutigen und koordinieren. Sie kann im weiten Feld dazwischen in als angemessen empfundener Weise Vorgaben machen. Sie kann sogar Politiken über ihre gemeinsamen Institutionen umsetzen, die nicht alle Mitgliedstaaten betreffen (siehe zum Beispiel Währungsunion und Schengen).

Unterschiedliche Werkzeuge schaffen viele Handlungsoptionen. Häufig beginnen europäische Politiken mit Absprachen zwischen den Regierungen. Wenn die Zusammenarbeit intensiver wird, bedient man sich der Unterstützung der Kommission. Und wenn deren Arbeit sich als sinnvoll erweist, wechselt man hinüber zu europäischer Rechtsetzung unter Einschluss des Parlaments.

Gelingt umgekehrt – wie in der Flüchtlings- und der Finanzkrise – die gemeinsame Rechtsetzung nicht, dann versucht man es mit Zusammenarbeit der Regierungen. Gelingt diese nicht mit allen, dann machen einige einen Anfang und zeigen, was möglich ist. Diese Flexibilität im Ansatz erlaubt es, immer wieder Blockaden zu durchbrechen und Notwendiges wirksam voranzutreiben.

Auch nach außen hin hat die EU eine unglaubliche Vielfalt rechtlicher Arrangements geschaffen, die Staaten in der Nachbarschaft eine Mitwirkung entsprechend ihrer Wünsche ermöglichen. Genannt seien die bilateralen Abkommen mit der Schweiz, der Europäische Wirtschaftsraum mit den EFTA-Staaten, die Zollunion mit der Türkei, die Erweiterungspolitik auf dem Balkan und die Nachbarschaftspolitik in Ost und Süd.

Die EU braucht ihr Parlament als Motor und Korrektiv

Die oben beschriebene Doppelgesichtigkeit der Union findet ihre Entsprechung in ihrem institutionellen Gefüge. Der Rat repräsentiert sie als Union der Staaten, das Parlament als Union ihrer Bürgerinnen und Bürger. Im Bereich der gemeinsamen Rechtsetzung agiert der Ministerrat als zweite Kammer neben dem Parlament, im Bereich der bloßen Regierungszusammenarbeit übt das Parlament nur eine Aufsichtsfunktion aus.

Gerhard Losher erklärt Letzteres zum Ideal. Er negiert damit, dass eine vor allem über die Binnenmarktgesetzgebung und die internationale Handelspolitik sehr machtvoll in den Alltag aller Bürgerinnen und Bürger eingreifende Europäische Union auch eine starke demokratische Kontrolle braucht. Wer diese Kontrolle über die nationale Ebene ausgeübt wissen will, müsste die entsprechenden Zuständigkeiten auch wieder dort ansiedeln. Hinter jeder Forderung nach Zurückdrängung des Parlaments steckt also unvermeidlich auch die nach einem Rückbau der EU. Und dieser Rückbau hätte gravierende Folgen für die politischen Verhältnisse auf dem Kontinent, für unseren Wohlstand und für unsere globale Handlungsfähigkeit.

Parlamente wurden einst erdacht, um nach revolutionären Umbrüchen alle politisch relevanten Gruppen einer Gesellschaft in Dialog zu bringen. Sie bedeuten eine fundamentale Änderung der machtpolitischen Logik: In ihnen führt nicht mehr die Unterdrückung der politischen Gegner, sondern ausschließlich die Suche nach Bündnispartnern zum Erfolg. Der Austausch von Argumenten, das Parlieren, tritt an die Stelle des Kampfes unterschiedlicher Gruppen. Dass das ganze öffentlich geschieht, gibt der Bevölkerung und ihren Interessenvertretern Gelegenheit, durch Ansprache von Parlamentariern Einfluss zu nehmen. Und weil die Meinungsbildung transparent vonstatten geht, darf sie als legitim gelten und auf Akzeptanz hoffen.

Es wäre nun zugegebenermaßen überzogen, das Europäische Parlament als Verkörperung dieses Ideals zu sehen. Noch ist es im öffentlichen Bewusstsein nicht tief genug verankert, weshalb es nicht genug Aufmerksamkeit erhält. Weil es diese nicht hat, wird die Macht seiner Mitglieder massiv unterschätzt – mit weitreichenden Konsequenzen für innerparteiliche Debatten und die Auswahl des entsprechenden Personals. Und weil sich viele Abgeordnete nach wie vor mehr als Teil einer eingespielten Brüsseler Maschinerie denn als Volksvertreterinnen und -vertreter begreifen, sind sie selbst im Alltag zu anfällig für Hinterzimmerpolitik.

Die unvermeidlichen Anlaufschwierigkeiten im Jahr zehn nach der Parlamentarisierung durch den Lissaboner Vertrag (und zehn Jahre sind nichts in diesem Zusammmenhang) bedeuten keinesfalls, dass die EU auf ihr Parlament verzichten könnte. Gerade in Anbetracht der sehr heterogenen Interessenlagen von immer mehr Mitgliedstaaten fällt es dem Rat immer schwerer, tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Regierungen, die einem Parlament und der Öffentlichkeit zuhause verantwortlich sind, müssen ohne Nennung klarer Interessen in Verhandlungen einsteigen und das Ergebnis hinterher zum Erfolg erklären, wenn sie an einer politischen Lösung ernsthaft interessiert sind. Im Rat wird das Handeln dann allzu leicht von der Frage bestimmt, welche Einigung möglichst allen eine Heimreise ohne Gesichtsverlust ermöglicht. Ergebnisse sind dann häufig weder zielführend noch überzeugend. Hier liegt eine Aufgabe für das Parlament, die es ansatzweise spielt und in die es dringend voll hineinwachsen muss: Als Forum für europäische Politik, als kreative, innovative Ideenschmiede, in der unter den Augen der Öffentlichkeit Politiken entwickelt werden, die unterschiedliche Interessen berücksichtigen, die mehrheitsfähig sind und auf die der Rat zurückgreifen kann.

Ein erfolgreiches Deutschland ist ohne EU nicht vorstellbar

Damit kämen wir zurück zum Aufhänger des Artikels von Gerhard Losher. Helmut Kohl war kein weltfremder Idealist, als er die europäische Einigung zur Kehrseite der deutschen erklärte. Weder seine Aussagen noch seine Handlungen deuten darauf hin, dass er jemals geglaubt haben könnte, Europa ließe sich in eine stabile staatliche Struktur gießen, so wie dies im Falle Deutschlands 1989/90 geschehen ist.

Ihm ging es um die feste Verankerung, die er mit Binnenmarkt, Währungsunion und Schengen gleichzeitig mit ins Werk setzte. Nicht als Überwindung aller Probleme, sondern als Rahmen für notwendige gemeinsame Lösungen. Nur die Aussicht, dass auch das wiedervereinigte Deutschland an stabilen Strukturen für den ganzen Kontinent mitwirken und in einen nationalen Wettbewerb um Einfluss und Macht gar nicht erst einsteigen würde, machte das Wiedererstehen des Riesen in der Mitte des Kontinents für die anderen Europäerinnen und Europäer akzeptabel. Insofern bleibt die Einfügung in ein demokratisches Europa als Gleiche unter Gleichen für immer unsere nationale Verpflichtung und ist zu Recht Verfassungsauftrag.

Der „Brexit“ lehrt uns, wie hoffnungslos ins Abseits gerät, wer Strukturfragen künstlich aufbläht und zur Ideologie erhebt. Was zählt, ist einzig und allein, dass wir Europäer uns nicht gegenseitig lähmen und auch nach dem Verlust unserer globalen Vormachtstellung souverän Politik nach eigenen Vorstellungen gestalten können. Mit der Europäischen Union beziehen wir klar Position für politische Kreativität und mutige Zukunftsgestaltung – und für ein politisches System, das nicht sich selbst oder irgendwelchen vorgefassten Vorstellungen dient, sondern den Menschen auf dem Kontinent und darüber hinaus.

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