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Die britische Katze

Ein Comic des Zeicherns Simons Cat veranschaulicht das lang Hinauszögerns des Brexit.
[Zeichnung: Simons Cat [Twitter]

Seit Monaten kursiert in den sozialen Netzwerken ein Meme unter dem Hashtag #brexit: Eine Katze attackiert von Innen eine Tür und bleibt, nachdem diese geöffnet wird, einfach sitzen. Dies in Umlauf gebracht zu haben, darf heute als prophetisch gelten. Schon zwei Mal hat das Vereinigte Königreich knapp vor dem Stichtag darum gebeten, die EU nicht verlassen zu müssen.

Warum gehen die Briten nicht?

Der Schritt hinaus würde bedeuten, dass das Land sich in eine einseitige Abhängigkeit von der EU begäbe. Geschähe der Austritt durch Unterzeichnen des Austrittsabkommens, dann wäre dies rechtlich kodifiziert. Im Vereinigten Königreich gültiges Wirtschaftsrecht käme künftig ohne britisches Zutun zustande. Handelsverträge würden von den übrigen Europäern auch im Namen der Briten geschlossen.

Nominell wäre diese Abhängigkeit auf knappe vier Jahre begrenzt. Niemand glaubt allerdings ernsthaft, dass es möglich ist, alle für danach nötigen Verträge innerhalb dieser Zeit zu schließen. Zudem ist wenig nachvollziehbar, warum eigenständige Verträge mit Dritten für das Vereinigte Königreich lukrativer sein sollten als diejenigen, die im Rahmen der EU bis dahin gültig sind. Das bedeutet in der Konsequenz: Es wäre wahrscheinlich noch nicht einmal rational, den fremdbestimmten Übergangszustand in Richtung eines effektiven Austritts zu verlassen.

Die öffentliche Diskussion hat sich in diesem Zusammenhang am sogenannten „Backstop“ entzündet. Der Begriff beschreibt die Bestimmung, dass Großbritannien die enge Anbindung an der EU auch nach Ende der Übergangszeit so lange beibehalten muss, bis eine Regelung gefunden ist, die das irische Karfreitagsabkommen sichert. Bei den Debatten der letzten Wochen im britischen Unterhaus wurde jedoch deutlich, dass weniger die eventuelle Notfalllösung am Ende, als vielmehr der Eintritt in diese einseitige Abhängigkeit für viele Abgeordnete nicht akzeptabel ist.

Nun gibt es vor allem bei den britischen Konservativen nicht wenige, die in dieser Lage fordern, die EU zu verlassen, ohne eine solche Unterwerfung unter EU-Recht zu akzeptieren. Sie meinen, es gehe hier um Souveränität und nationales Prestige. Pure ökonomische Rationalität sei fehl am Platz. Die übergroße Mehrheit im Parlament lehnt diese Sicht jedoch ab und blockiert einen Austritt ohne Abkommen. Sie befürchtet chaotische Zustände, nicht nur an den Grenzen. In vielen bisher von der EU geregelten Bereichen könne es zu anarchischen Zuständen kommen, da die entsprechenden Institutionen und Verwaltungseinheiten in Großbritannien dann schlagartig nicht mehr vorhanden wären.

Dies alles könne zu gravierenden Auswirkungen auf das alltägliche Leben und das Wirtschaftsgeschehen führen. Besonders betroffen wäre die Industrie, die eng mit dem Kontinent vernetzt ist und schnell zum Erliegen käme. Probleme, die durch den Abbruch der Zusammenarbeit mit den Kontinentaleuropäern entstünden, wären dann nur durch deren Wiederaufnahme zu lösen. Die Regierung müsste binnen kurzem zu Kreuze kriechen und in Brüssel um Hilfe bitten. Und die EU hat deutlich angekündigt, auch dann nur das anzubieten, was schon jetzt auf dem Tisch liegt: Das ausgehandelte Abkommen.

Wie ist die aktuelle Lage?

Anders als auf dem Kontinent bisher in der Regel diskutiert, handelt das britische Unterhaus durchaus rational, indem es jeden Beschluss über einen konkreten Austritt umgeht. Es wurde von der Regierung erst spät und widerwillig in den Austrittsprozess einbezogen und weigert sich nun standhaft, Verantwortung für den von May eingeschlagenen Weg zu übernehmen. Es ist mehrheitlich auch nicht bereit, schon jetzt eine einseitige Unterwerfung unter die wirtschaftspolitische Kontrolle durch die EU zu beschließen, nur um den Austrittsprozess reibungsloser zu gestalten. Und es verweigert drittens die Zustimmungen zu einem Austritt ohne Abkommen, da dieser für das Land katastrophale Folgen hätte. Folgen, die zudem nur mit Hilfe der EU überwunden werden könnten. 

Bei aller Kritik an taktischen Überlegungen der Parteiführungen und ideologisierenden Äußerungen einzelner, ist der Kurs des Parlaments insgesamt nachvollziehbar und verdient Respekt. Dass die Abgeordneten die ihnen angebotenen Optionen verwerfen, ist rational, wenn sie in jeder einzelnen eine Schwächung oder Schädigung das Vereinigten Königreichs sehen. Damit setzt Westminster aber gleichzeitig die Frage auf die Tagesordnung, ob es einen den Interessen des Landes dienlichen Brexit überhaupt geben kann.

Das große Versprechen, man könne die EU verlassen und dabei wohlhabender und gleichzeitig einflussreicher werden, war von Anfang an eine Illusion. Vor dem Hintergrund der britischen Geschichte wollten viele daran glauben. Sich von dieser Illusion zu verabschieden, fällt offenkundig ungeheuer schwer. Deshalb verharrt die Katze, um im Bild zu bleiben, auf der Schwelle. Sie ist weder bereit, sich die Fehleinschätzung einzugestehen, noch willens, die Konsequenzen in der einen oder anderen Weise zu tragen.

Der aktuelle Schwebezustand bringt die Brexit-Befürworter auf die Barrikaden und fügt dem Land auch für sich genommen riesigen Schaden zu. International agierende Unternehmen vermissen nun schon seit Jahren Planungssicherheit und wenden sich im Zweifel eher ab. Auch die europäischen Partner verlieren mehr und mehr die Geduld.

Kann es eine schnelle Lösung geben?

Das vorliegende Abkommen, das May nach wie vor verzweifelt durch das Parlament zu bringen hofft, könnte diesen Schwebezustand durchaus beenden. Es würde sicherstellen, dass sich im Leben von Briten und anderen Europäern und im Wirtschaftsgeschehen aktuell und für die nächsten Jahre nichts änderte. Die Briten zögen sich aus den Europäischen Institutionen zurück, womit diese im Wahljahr 2019 unbeeinträchtigt neu gebildet werden könnten. Die EU könnte sich wieder anderen, wichtigeren Themen zuwenden. Und in London gewönne man Zeit, sich neu zu sortieren und über die eigene Situation klar zu werden.

Für die EU wäre das die bequemste Lösung. Denkbar wäre unter diesen Umständen auch ein Wiedereintritt vor Ablauf der Übergangszeit, so dass der Brexit – abgesehen von der Arbeit in den Institutionen – nie alltagswirksam werden müsste. Zudem wären die bisherigen Privilegien unabhängig vom weiteren Verlauf für das Vereinigte Königreich kaum zurückzugewinnen, was den übrigen Mitgliedern sehr gefallen würde.

Das Ergebnispapier vom EU-Gipfel Ende März liest sich, als wären die Staats- und Regierungschefs überwiegend von der Vorstellung geleitet gewesen, genau diesen Weg zu gehen. Allerdings ist seither immer deutlicher geworden, dass für diese Lösung der Grundwiderstand gegen den Brexit in Westminster schon so groß geworden ist, dass May ihn wahrscheinlich nicht wird brechen können. Ideologen lehnen ihr Abkommen trotz der Erpressungsversuche der Premierministerin nach wie vor prinzipiell ab. Für Pragmatiker läuft er britischen Interessen zuwider. Der Preis für verlässliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen erscheint ihnen zu hoch.  

Perspektiven

Aktuell ist zu beobachten, dass das Parlament im Ergebnis dafür sorgt, den fragilen Aufenthalt zwischen Drinnen und Draußen nicht zu gefährden. Inzwischen hat, angeregt durch die zuvor lange unterdrückten parlamentarischen Debatten, eine breite Diskussion in der britischen Öffentlichkeit eingesetzt. Endlich beschäftigen sich viele mit den Details und den möglichen Konsequenzen eines Brexits. Die breite Öffentlichkeit nimmt mit Verwunderung wahr, dass die vermeintlich undemokratische EU die britische Regierung zwingt, EU-Bürger an Wahlen teilnehmen zu lassen. Und dass nicht vermeintlich weltfremde Apparatschiks gegen nationale Politiker ankämpfen, sondern einmütig agierende nationale Regierungen wie in einer großen Familie gemeinsam Entscheidungen herbeiführen und dabei umsichtig die Interessen selbst des kleinen Irlands immer im Blick behalten. Gerade mit Blick auf Schottland ist der Unterschied zum Verhalten Londons frappierend. Kurz: Die Briten entdecken gerade, was die EU wirklich ist.

Zurück zur Katze auf der Türschwelle. Störrisch, wie es ihre Art ist, empfiehlt es sich nicht, sie  zu irgend etwas zu drängen. Sie mit einem Tritt vor die Tür zu befördern hieße, die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen. Die EU hätte nicht mehr die Chance, weiterhin helfend zu unterstützen, sondern stünde als die Verursacherin britischer Probleme da. Dies könnte das gegenseitige Verhältnis nachhaltig vergiften und die für beide Seiten unverzichtbare Zusammenarbeit erschweren. Es wird aber umgekehrt auch nicht möglich sein, die Katze zurück ins Haus zu scheuchen. Ein Zurückweichen kann nur freiwillig und im Ergebnis eines längeren Prozesses erfolgen, wahrscheinlich im Rahmen eines zweiten Referendums.

Die EU ist stark genug, auch in dieser schwierigen Situation ihre Interessen zu wahren, solange sie planvoll, umsichtig und eng abgestimmt agiert. Die Briten erhalten so die Zeit, sich selbst zu orientieren und souverän unter den tatsächlichen Optionen die beste zu wählen. Der dieser Tage beginnende Wahlkampf wird den notwendigen britischen Selbstfindungsprozess voranbringen, es geht um nicht weniger als eine Neuformulierung des britischen Selbstverständnisses in Europa und der Welt. Gleichzeitig wird es wahrscheinlich zu einer Neuformierung des britischen Parteiensystems kommen müssen. Großbritannien erlebt gerade den größten Umbruch seit dem Ende der Kolonialzeit. Die kommenden Monate versprechen, interessant zu werden.  

Dieser Artikel ist am 17. April 2019 erschienen bei euractiv.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz