Zu Beginn jeder neuen Ratspräsidentschaft, also alle 6 Monate, lädt die Europäische Bewegung den Berliner Botschafter des betreffenden Landes, dazu ein, die aktuelle Planung vor- und zur Diskussion zu stellen. Am 8. Juli nahmen neben der finnischen Botschafterin Anne Sipiläinnen auch Bernhard Schnittker, stellv. Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland, Andreas Peschke, Leiter der Europaabteilung im Auswärtigen Amt, und Dr. Kirsten Scholl, Leiterin der Europaabteilung im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, teil. Der folgende Text ist die nach der Veranstaltung verfasste Niederschrift des von mir Gesagten.
Wir und all unsere Mitgliedsorganisationen haben vor der Europawahl große Anstrengungen unternommen, um zu einer hohen Wahlbeteiligung beizutragen, mit einer ganzen Reihe großer und kleiner Projekte und mit unserer Kampagne. Nie zuvor hatte die Europawahl so viel Aufmerksamkeit und Medienpräsenz. Darauf sind wir stolz. Wie die finnische Botschafterin Sipiläninen gerade gesagt hat, ist es entscheidend, dass europäische Politik den Bürgerinnen und Bürgern dient. Das heißt auch, dass das Parlament und damit das Wahlergebnis Respekt verdienen. Andernfalls würden wir 2024 Mobilisierungsprobleme bekommen.
Der Vertrag legt mit guten Gründen fest, dass die Kommissionsspitze das Vertrauen sowohl des Rates, als auch des Parlaments benötigt. Eine gewisse Spannung ist an dieser Stelle angelegt, unterschiedliche Vorstellungen sind normal, ein Machtkampf ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Und daran ist auch nichts verkehrt.
Noch allerdings hat sich kein Verfahren eingespielt, wie dieser anspruchsvolle Besetzungsprozess fair und effektiv verlaufen kann. Nachdem der Rat vor 5 Jahren faktisch vor vollendete Tatsachen gestellt worden war, hat er sich nun bemüht, vor der Konstituierung des Parlaments Fakten zu schaffen. Vom Parlament wird nun erwartet, dass es binnen kurzem den Vorschlag für die Kommissionsspitze bestätigt.
Die Wahl einer Kommissionspräsidentin ist aber kein symbolischer Akt, sondern ein hochpolitischer Vorgang. Um eine reibungslose Zusammenarbeit zu ermöglichen, ist es unabdingbar, dass sich das Parlament als Co-Gesetzgeber versichert, dass die neue Kommission im Sinne der Parlamentsmehrheit agieren wird. Darauf haben auch die europäischen Wählerinnen und Wähler einen Anspruch. Umgekehrt hat die Kommissionsspitze einen Anspruch darauf, durch politische Verständigung mit den Fraktionen im Parlament eine breite, sie tragende Mehrheit organisieren zu dürfen.
Insofern wäre es sinnvoll, wennder Rat mit seinem Vorschlag warten müsste, bis das Parlament sich auf politische Kernforderungen an die neue Kommission und ihr Arbeitsprogramm verständigt hat, entlang derer Kandidaten dann auch bewertet werden können. Erst ein konstituiertes Parlament kann mit dem Rat auf Augenhöhe verhandeln.
Dafür ist es nun zu spät. Wir plädieren in der gegenwärtigen Situation aber für das Prinzip Gründlichkeit statt Schnelligkeit. Entscheidend ist, dass das Parlament sich die Zeit nimmt, seine Erwartungen klar zum Ausdruck zu bringen und die Grundlinien einer mehrheitsfähigen EU-Politik für die nächsten 5 Jahre zu umreißen. Gleichzeitig muss auch Frau von der Leyen die Chance erhalten, eine breite Mehrheit im Parlament zu überzeugen. Wenn dieser Prozess mehr Zeit brauchen sollte, als vom Rat angenommen, dann wäre dies im Interesse der europäischen Demokratie hinzunehmen. Wir stehen nicht unter Zeitdruck.
Im Rahmen der Verhandlungen zwischen den Fraktionen des Parlaments und mit der Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin sollten Grundlinien für die Themen vereinbart werden, die auch die finnische Ratspräsidentschaft als Prioritäten genannt hat: Klima, Digitalisierung, Soziales, Migration und Asyl, Sicherheit. In all diesen Bereichen steht europäische Politik unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Gefahr, Bürgerinnen und Bürger zu enttäuschen ist groß – die Chance, sie zu überzeugen aber auch.
Herausgreifen möchte ich das Thema Grundrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit, dem die finnische Ratspräsidentschaft erfreulicherweise große Bedeutung beimisst. Hier erleben wir seit Jahren, wie schwer es ist, die Balance zu finden zwischen einer klaren, eindeutigen Linie und einer Politik, die in der östlichen Mitte des Kontinents als herablassend oder respektlos empfunden wird oder interpretiert werden kann. Dass Frans Timmermans gewissermaßen an seiner guten Arbeit in diesem Bereich gescheitert ist, verdeutlicht die Größe der Herausforderung. Das Thema wird uns alle gemeinsam noch intensiv beschäftigen.
Zum Schluss möchte ich noch die Erweiterungspolitik ansprechen. Die EBD begrüßt ganz ausdrücklich, dass sich die finnische Ratspräsidentschaft so eindeutig für eine Aufnahme von Verhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien im Herbst ausgesprochen hat. Ebenso freut uns, dass Herr Peschke vom Auswärtigen Amt hier und heute diese Position so klar unterstützt hat. Es wäre unverantwortlich, jenen, die sich im Namensstreit in Nordmazedonien um eine pragmatische Lösung bemüht und den Nationalisten entgegengestellt haben, nun in den Rücken zu fallen. Zudem kann man nicht oft genug betonen: Ein Abwarten verschiebt die Herausforderungen in der Region nicht einfach in die Zukunft, sondern wird sie vergrößern. Außerdem verschafft es unseren internationalen Gegenspielern zusätzliche Optionen, die EU zu schwächen und unsere Zusammenarbeit zu stören.