Es klingt ja zunächst sehr vernünftig, wenn die Regierungen einiger Nachbarstaaten Deutschlands immer wieder zur Zurückhaltung mahnen. Die EU sei momentan wirklich genug mit sich selbst beschäftigt. Und Serbien, Albanien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Bosnien-Hercegovina hätten noch viel zu tun vor einem EU-Beitritt.
Und doch ist es klug, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Thema Westbalkan auf der Agenda hält, dass die britische Regierung (ausgerechnet sie!) im Juli eine Konferenz zur Heranführung der Region an die EU abgehalten hat und dass Bundeskanzlerin Angela Merkel heute den montenegrinischen Ministerpräsidenten Dusko Markovic empfängt.
Natürlich ist die EU nicht mehr dieselbe Verheißung wie vor 15 Jahren, als die Region glückselig in Thessaloniki ihre „Beitrittsperspektive“ entgegennahm. Zynisch könnte man sagen: Selbstschädigende Schaukämpfe (wie in Ungarn), Gewaltsam unterdrückte Proteste (wie in Rumänien) oder spektakulär scheiternden Größenwahn (wie in Großbritannien) bekommen die Staaten auf dem Westbalkan auch ohne vorherigen EU-Beitritt hin.
Es gilt aber auch: Ohne die anderen Europäer im Rücken ist es für die überwiegend westlich gesinnten, sehr gut ausgebildeten jungen Eliten im Westbalkan weitaus schwerer, gegenüber den Oligarchen in der Region die Oberhand zu gewinnen. Ohne die Aussicht auf EU-Integration ist kaum Auslandskapital zu gewinnen. Und ohne die Europäischen Institutionen als Garanten für die Einhaltung getroffener Absprachen sind die vielen latenten Konflikte kaum zu lösen, können Vertrauen und Zusammenarbeit nicht wachsen.
Umgekehrt kann aber auch die Europäische Union keine stabilen Verhältnisse erreichen, wenn im Westbalkan ihrem Wertemodell feindlich gesinnte Kräfte aus Russland, der Türkei, Saudi-Arabien und China eine strategische Spielwiese haben, wenn eingefrorene Konflikte jeden Fortschritt hemmen und wenn korrupte Regierungen kriminellen Banden Freiräume gewähren.
Der Westbalkan ist für die EU nicht der lästige Hinterhof, den man ignorieren und verstecken könnte. Er ist der Innenhof, ohne den das gemeinsame Haus nicht in Ordnung zu bringen ist.
Am Ende wird es nicht auf Regierungschefs ankommen. Sie können Ziele setzen, Kriterien definieren, Absprachen treffen. Den Innenhof in Ordnung bringen und in Ordnung halten, das können nur alle gemeinsam: Die Bevölkerung, organisierte Zivilgesellschaft, Wirtschaft und staatliche Verwaltung.
Deshalb hat die Europäische Bewegung in ihr diesjähriges politisches Programm auch den Satz aufgenommen: „Der ‚Berliner Prozess‘ zur Integration des Westbalkans muss verstärkt demokratisch organisierte Kräfte aus der EU und in den Westbalkanstaaten einbinden und wirkmächtig unterstützen. Nur so können Pluralismus und Demokratie grenzüberschreitend gestärkt werden.“
Wie eng die Abhängigkeiten längst sind, zeigt zum Beispiel der Bereich Migration. Junge Menschen vom Westbalkan sind beispielsweise in den Pflegeberufen bei uns inzwischen unentbehrlich und tragen maßgeblich zum Familieneinkommen zuhause bei. Junge Akademiker unterstützen den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erfolg in den EU-Staaten und leisten einen unersetzlichen Transfer von Wissen und Erfahrung in die Region.
Felder wie dieses bieten viel Raum für Absprachen und gute Rahmensetzung im gegenseitigen Interesse. Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Verwaltungen gut zusammenarbeiten, dann können am Ende auch die Nachfolger von Juncker, Merkel und Markovic mit dem staatlichen Vollzug des Beitritts erfolgreich sein.
Gelingen kann dies aber nur, wenn wir in der EU das Vertrauen gerade der jungen Bewohnerinnen und Bewohner des Westbalkans (wieder-)gewinnen. Denn ohne deren Vertrauen in eine europäische Zukunft, in unser aller Verlässlichkeit, wird es nicht gehen. An dieser Stelle stehen wir vor einer echten Aufgabe.
Veröffentlicht von der Europäischen Bewegung Deutschland