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Ein Jahr danach – ein offener Brief an den Euromaidan

Foto: Viktor Kovalenko (CC BY-NC-SA 2.0)

Liebe Freundinnen und Freunde in der Ukraine,

vor einem Jahr habt Ihr Euch in die Kiewer Novemberkälte gestellt, weil ihr nicht einverstanden wart mit dem Kurswechsel Eurer Regierung: Eine kleine Gruppe überwiegend junger Menschen, die sich ihre Zukunft im eigenen Land nicht nehmen lassen wollte.

Ihr wolltet einen Aufbruch, ihr wolltet Reformen, ihr wolltet Schritte gegen Korruption. Ihr hatten den Traum von einer neuen, einer europäischen, einer nicht post-sowjetischen Ukraine. Ausgerechnet der Gegner der Orangenen Revolution im Jahr 2004, Viktor Janukowitsch, schien Euer Land zunächst tatsächlich in diese Richtung zu führen. Am 21. November 2013 zog er jedoch die Notbremse und sagte die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU ab, das ein „Weiter so“ verhindert und frischen Wind ins Land gebracht hätte. Ihr wart geschockt, ihr wart verzweifelt. Die Aussicht auf weitere Jahre der Lethargie schien Euch unannehmbar.

Janukowitsch und seine Regierung müssen gespürt haben, wie ernst es Euch war. Sie reagierten panisch, mit roher Gewalt. Die Bilder gingen durch die Medien. Und es geschah das große ukrainische Wunder: Hunderttausende Ukrainer überall im Land formulierten ein eindrückliches „So nicht!“. Es waren Eure Eltern und Großeltern, Eure Freunde und Lehrer, Eure Nachbarn. Es waren „ganz normale Menschen“, die begriffen, dass es um Elementares ging und die ganz klar Position bezogen. In Eiseskälte. Trotz Lebensbedrohung.

Ihr habt Euer Land verändert, in diesem Winter 2013/2014. Als Journalisten, Köche, Ärzte, politisch Rechte, Linke und Liberale, Russisch- und Ukrainischsprechende, Orthodoxe, Juden und Tartaren zusammenstanden und gemeinsam den Temperaturen und der zermürbenden Gewalt standhielten, erstand die Ukraine als moderne, europäische Willensnation. Seitdem bindet man zwischen Lemberg und Mariupol, zwischen Odessa und Charkiv stolz blaugelbe Bändchen an Autos und malt Brückengeländer und Laternenmasten in den Nationalfarben an. Seitdem wird man auf Ausflugsboten auf dem Dnjepr mit „Slava Ukraina“, „Ruhm der Ukraine“ verabschiedet. Früher hättet ihr darüber gelacht. Heute seid ihr stolz. Auf Euch!

Ihr habt Euch in die lange Reihe derer gestellt, die in Europa ein Ende machen wollten und wollen mit überkommenen Strukturen, mit vermeintlich Unabänderlichem, mit Duckmäusertum und Selbstgerechtigkeit. Ihr habt sie gelebt, ganz konkret und aus sicherem Bauchgefühl heraus: Die Haltung, die die Deutschen nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zurück in den Kreis der respektierten Nationen geführt hat und die Südeuropäer ihre Autokraten abschütteln und den Anschluss an das gemeinsame Europa finden half. In Euch lebte er wieder auf, der Geist derer, die sich 1952 in Berlin, 1956 in Budapest, 1967 in Prag und Bratislava auflehnten gegen Entmündigung und Willkür. Ihr seid die würdigen Nachfolger derer, die sich 1980 an der Danziger Werft versammelten, 1989 zum Baltischen Weg aufstellten und wenig später in Leipzig der Staatsmacht die Ausweglosigkeit ihres Tuns vor Augen führte.

Wir übrigen Europäer dürfen stolz sein, dass Ihr unsere Fahne zu Eurem Symbol gemacht habt.

Nur zu oft sind wir in der EU geneigt, in Euch lästige Unruhestifter zu sehen. Es ist ja so bequem, Euch wahlweise als Nationalisten oder als nützliche Idioten im Dienste amerikanischer Interessen abzutun. Als hättet Ihr je zugelassen, dass Rechte den Gang der Dinge bestimmen. Als hättet Ihr Euch je Gedanken darüber gemacht, was die US-Politik wollen könnte. Ihr seid denen ein Rätsel, die sich nicht vorstellen können, dass Menschen allein aus tiefer Überzeugung so vermeintlich selbstlos und irrational handeln können.

Im benachbarten Russland haben die Machthaber soviel Angst vor Euch und Eurer Haltung, dass man vom Einsatz von Lüge und Propaganda bis zur Entsendung bewaffneter Abenteurer und Soldaten alles aufbietet, was man zur Verfügung hat. Aus Panik lässt man sich in eine Politik treiben, die ökonomisch und politisch nur im eigenen Desaster enden kann. Und die leider auch Eurem Land massiv schadet, die Ukraine auf eine harte Probe stellt.

Ihr seid die vorerst letzten einer trotz aller Rückschläge unaufhaltsamen europäischen Bewegung. Einer Bewegung von Menschen, die dafür einstehen, dass sich Initiative, Mut und klare Überzeugungen auszahlen. Und die wissen, dass nichts gewonnen ist, was andern genommen wurde. Dass dauerhaft nur bleibt, was im Einklang mit den Nachbarn erreicht worden ist.

Ihr habt Euer Land längst verändert, ihr habt die Welt verändert. Ihr habt Fakten geschaffen, die nicht revidierbar sind. Wir können froh sein, dass ihr Europa gemeinsam mit uns voranbringen wollt als einen Kontinent, der Mut, Initiative und Verantwortung zusammenbringt mit Solidarität und der auf der Basis gegenseitigen Respekts aus seiner Vielfalt im Interesse aller das Beste macht.

Wir übrigen Europäer dürfen stolz sein, dass Ihr unsere Fahne zu Eurem Symbol gemacht habt. Hoffentlich werden wir es schaffen, unsere Trägheit zu überwinden und Euch wirksam beizustehen in den schweren Zeiten, die vor Euch liegen. Wir sind es uns schuldig. Und Ihr habt es verdient.

Veröffentlicht auch beim Netzwerk EBD

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz

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