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Der Westbalkan als Herausforderung

Die EU ist in den letzten Jahren größer geworden, heterogener, auch schwerfälliger. Und während die Neumitglieder der Industrie und dem Handel alter Mitgliedsstaaten wie Deutschland unbeschränkt zugängliche Märkte vor der Haustür bescherten, waren sie gleichzeitig Empfänger umfangreicher Struktur- und Anpassungshilfen. Zudem mussten wir mit Blick auf Neumitglieder wie Polen und Ungarn lernen, dass das Zusammenwachsen nicht nur ein organisatorischer Vorgang ist, sondern auch zu Konflikten führt.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass es in der EU Widerstand gegen weitere Erweiterungen gibt. Es sei doch irgendwann mal genug, so ist seit Jahren selbst unter eingefleischten EU-Befürwortern zu hören. Mit dieser Begründung wurden die Zusagen, die 1999 den Ländern des Westbalkans gemacht worden waren, lange ignoriert. Das ist zwar verständlich, schadet aber der Region ebenso wie den Interessen der Union.

 

Die vier Fehler der letzten zwanzig Jahre

Erstens: Ohne europäische Integration ist auf dem Balkan keine Stabilität denkbar. Die Lage in Mitrovica im Nord-Kosovo, in der Republika Srbska in Bosnien oder auch im westlichen Mazedonien würde aufgrund ethnischer Spannungen bei geschlossenen Grenzen und ohne Einflussnahme von außen schnell aus dem Ruder laufen. Sämtliche Staaten sind zu klein und zu schwach, um eine eigene arbeitsteilige Volkswirtschaft entwickeln und ihren Bürgern ein gutes Leben ermöglich zu können. Keines der Völker des Westbalkans wird ohne oder gar gegen die Nachbarn zu Wohlstand und Stabilität finden. So wie in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg muss selbst bei gutem Willen aller Beteiligten ein Garant stabiler Verhältnisse und getroffener Vereinbarungen von außen kommen, damit sich die Regierungen in der Region ohne Furcht aufeinander einlassen und Vertrauen entwickeln können. Die Rolle als „benevolenter Hegemon“ wird die EU erst los sein, wenn die gemeinsame Mitgliedschaft in ihren Strukturen die Staaten des Westbalkans fest verbindet.

Zweitens: Jedes Zögern auf dem Balkan schwächt die EU insgesamt, und zwar nachhaltig. Russische Staatsunternehmen lassen keine Möglichkeit aus, die Kontrolle zum Beispiel über Energieversorger zu gewinnen. China investiert gezielt in öffentliche Infrastruktur und schafft systematisch Abhängigkeiten, indem es Piräus in Griechenland zu einem der größten europäischen Häfen ausbaut und Investitionsmittel an die Regierungen verteilt. Der Preis: Schwierige Verhandlungspartner Europas bringen schwache europäische Staaten in Abhängigkeiten, erhalten Zugang zu Informationen aus erster Hand – und können bei Bedarf Sand ins Getriebe der EU streuen. Verglichen mit der viel verlautbarenden aber nur sehr langsam handelnden EU sind die neuen alten Freunde effizient und zuverlässig zur Stelle, etwa bei Naturkatastrophen. Der Frust über die EU entlädt sich in Putinverehrung – und in Erfolgen des von Saudi-Arabien massiv unterstützten wahabitischen Islam in Bosnien. Je länger wir Europäer das laufen lassen, desto schwerer werden wir mit den Folgen zurechtkommen.

Drittens: Selbst bei schlichter wirtschaftlicher Betrachtung der Situation verhalten wir uns bisher irrational. In Bosnien und im Kosovo hat die EU Milliarden investiert, um die Lage zu befrieden, die Übernahme dauerhafter Verantwortung aber verweigert. Hier wie auch in Mazedonien kam es wiederholt zu Krisen, die dann nur durch den massiven Einsatz an Aufmerksamkeit und Ressourcen wieder gebändigt werden konnten. Kurzfristige „Noteinsätze“ ersetzen aber keine nachhaltige Strategie. Und ohne eine nachhaltige Strategie nehmen wir europäischen Unternehmen die Möglichkeit, in einer Tritt fassenden Westbalkanregion Geld zu verdienen.  Durch unsere Flucht vor der Verantwortung verweigern wir den Menschen dort die Stabilität, die sie sich von uns erhoffen – und versenken unsere Hilfe in einem Fass ohne Boden, statt von Grund auf zu sanieren.

Viertens – und am Wichtigsten: In einer Zeit, in der die liberale Demokratie selbst in unseren wohlhabenden westeuropäischen Demokratien herausgefordert ist, bringen wir ihre Verfechter auf dem Westbalkan in eine noch viel schwierigere Lage. Nationalisten haben die Region beim Zusammenbruch der Ost-West-Konfrontation ins Chaos gestürzt. Die EU hat es nicht nur damals nicht geschafft, wirksam einzugreifen. Sie hat sich auch seither als Akteur erwiesen, der viel verspricht und wenig hält. So diskreditieren wir unser Demokratiemodell, während andere mit schlichten Parolen alte Feindschaften pflegen und alte Pfründe sichern. Wir leisten wir es uns, den Gegnern eines demokratischen, rechtstaatlichen Europas mitten in der EU einen Raum zum Wachsen und Gedeihen zu überlassen.

Es ist Zeit, es anders zu machen

Überall auf dem Balkan findet man sie: Europäer, die an Demokratie und Verantwortung glauben. Sie suchen wissbegierig nach übertragbaren Erfahrungen etwa aus Mittelosteuropa. Sie halten den Blick offen, über nationale Grenzen hinweg.

Aus der Frustration der letzten Jahrzehnte haben viele wunderbarerweise den Schluss gezogen, dass sie die Lösung ihrer Probleme nicht von außen erwarten dürfen, sondern ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihre Länder umgestalten müssen. Diese verantwortungsbewussten Realisten verdienen unsere Unterstützung und Rückendeckung.

In dieser Situation deutet die Ankündigung der Kommission, die Aufnahme von Staaten des Westbalkan sei ab 2025 vorstellbar, in die richtige Richtung. Natürlich dürfen wir niemanden leichtfertig und zu früh als Mitgliedsstaat aufnehmen, ohne dass gute Verwaltung und Rechtsstaatlichkeit tatsächlich gesichert sind. Gerade jene, die einen wirklichen Wandel wollen, betonen immer wieder, wie wichtig eine klare Haltung der EU sei. Mit falscher Großzügigkeit würden wir ihnen nur in den Rücken fallen. Vor allem aber müssen wir  unbedingt vermeiden, weiterhin Zusagen zu machen, die dann nicht auch eingehalten werden.

Klare Regeln, klare Forderungen und verlässliche Reaktionen, positiv wie negativ – das allein kann einen Rahmen schaffen, in dem Vertrauen und damit Stabilität wachsen können. So kann die EU den Westbalkan dagegen immunisieren, dass er von Dritten instrumentalisiert wird. So kann der Prozess wirtschaftlichen Wachstums im Interesse aller in Gang gesetzt werden, der auch andernorts geholfen hat, Staaten zu selbstbewussten Mitspielern auf der europäischen Bühne zu machen. Und so können wir einmal mehr unter Beweis stellen, dass Demokratie, Rechtstaatlichkeit und europäische Integration den autoritären Vorstellungen von Nationalisten weit überlegen sind.

Dieser Text erschien als EU-in-BRIEF im Zusammenhang mit dem EU Enlargement Package bei der Europäischen Bewegung. Er kann hier heruntergeladen werden.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz