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Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…

Was wurde nicht alles geschrieben in den letzten Wochen an Untergangsprophezeiungen! Innenpolitisch ist den einen der verstärkte Einzug rechtspopulistischer Parteien in das Europäische Parlament Beweis einer wachsenden Unpopularität der Europäischen Union. Für die anderen ist der relative Wahlsieg der Europäischen Volkspartei Ausdruck des Verrennens in eine falsche „Austeritätspolitik“ und einer
bevorstehenden Katastrophe – begründet nicht zuletzt durch anhaltende Rückgratlosigkeit europäischer Sozialisten und Sozialdemokraten.

Außenpolitisch macht sich die Union für „Putin-Versteher“ zur nützlichen Idiotin imperialer Politik der USA und lässt sich aufreiben im geopolitischen Kampf um Osteuropa, wo man doch mit Russland so einfach gemeinsame Sache machen könnte. Während umgekehrt gern auf die ideologischen Gemeinsamkeiten des eurasischen Vordenkers Alexander Dugin mit dem Front National oder der ungarischen Fidesz oder gar Jobbik verwiesen wird: Allen sei das Konzept einer pluralistischen, rechtsstaatlich gerahmten Demokratie ebenso suspekt wie die transatlantische Allianz, gemeinsam könnten der Kreml und westeuropäische Populisten die Europäische Idee zerstören.

Und schließlich gibt es da auch noch den institutionellen Machtkampf zwischen Rat und Parlament, der von beiden Seiten mit konzeptionell schwerem Geschütz ausgetragen wird. Föderalisten beschwören bei einem befürchteten Scheitern Jean-Claude Junckers das Ende der Demokratie auf europäischer Ebene herauf, während auf der anderen Seite bei seinem (wahrscheinlichen) Sieg das Ende konsensualer Entscheidungsfindung in Rat und Parlament und eine Beschneidung nationaler Macht durch einen anmaßenden Brüsseler Moloch an die Wand gemalt wird. Mit der Metapher des „Staatsstreiches“ (sic!) operieren dabei interessanterweise die Protagonisten beider Seiten.

Steht es also schlimm um die Europäische Union, ist sie letztlich bedeutungslos und wird zerrieben zwischen Rechten und Linken, zwischen Amerika und Russland und dann auch noch zwischen Föderalisten und Anhängern der Regierungszusammenarbeit? Ganz sicher nicht! Was soviel Aufmerksamkeit auf sich zieht und fortwährend Dreh- und Angelpunkt so vieler innen- und wirtschaftspolitischer, außenpolitischer und politiktheoretischer Betrachtungen ist, hat offenkundig außerordentlich große Bedeutung. Viel Feind, viel Ehr. All jene, die eine nationalstaatliche Ordnung Europas als realistischen Normalzustand und die europäische Integration als zu belächelnde Illusion einiger Träumer und Spinner abtun wollen, könnten nicht besser widerlegt werden als durch die Berichte und Kommentare in der Tagespresse.

In einer Demokratie ist die Koexistenz unterschiedlicher Interessen und Perspektiven der Normalzustand. Und selbst die Europäische Union als Elitenprojekt, als Forum zur gegenseitigen Abstimmung nationaler Politiken, ist nie ein Instrument zur Abschaffung des politischen Streits und von Machtkämpfen gewesen. Man hat sich Einigungen lange und gerne erleichtert durch Rückzug hinter verschlossene Türen. Weil immer Wichtigeres für immer mehr Menschen in immer mehr Staaten zu regeln ist und weil damit das gemeinsame Handeln auch für Dritte immer mehr Bedeutung erhält, steigt die Anspannung und erhöht sich die Aufmerksamkeit. Mehr Lärm ist jedoch kein Problem, so lange am Ende breit mitgetragene Lösungen stehen. Die intensivere Auseinandersetzung verleiht dem Ergebnis in funktionierenden demokratischen Systemen sogar umgekehrt Legitimität und damit Gewicht. Dies gilt auch und gerade für die oben genannten aktuellen Konflikte.

In der Wirtschaftspolitik standen sich schon immer widersprüchliche Konzeptionen gegenüber. Christ- und Sozialdemokraten, aber auch Liberale und seit einiger Zeit auch Grüne bringen im ständigen Diskurs miteinander und in Reaktion auf aktuelle politische Entwicklungen das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell seit Jahrzehnten immer wieder neu in einen von allen halbwegs als Balance empfundenen Zustand. Genau darum ging es bei der Währungskrise, genau darum geht es nun auch bei der Bewältigung der Staatsschuldenkrise und der viel zu hohen Arbeitslosigkeit. Wer gute Lösungen hat, möge vortreten – und wird gute Chancen haben, zu überzeugen. Der Rest ist ideologischer Theaterdonner, oder aber populistisches Geschwätz. Worauf es ankommt, sind funktionierende Lösungen anstehender Probleme. Wer sie hat und durchsetzt macht seriöse Politik, verdient Vertrauen und wird es erhalten.

In ihrer Außenpolitik gelingt es der EU derzeit in beeindruckender Weise, Geschlossenheit zu wahren und eine eigene europäische Linie zu verfolgen. Einerseits steht sie gegenüber Russland geschlossen und hat bislang den Spaltungsversuchen Putins widerstanden. Andererseits weiß sie um die internationale Abhängigkeit Russlands und die Vorteile, die der Kreml bei kurzfristigen Machtdemonstrationen hat. Sie setzt daher auf eine Strategie der zähen Unnachgiebigkeit und federt insbesondere aus den USA kommende Impulse, den großen Showdown zu suchen, wirksam ab.

Damit bliebe als dritter derzeit zentraler Konflikt der große Machtkampf zwischen Rat und Parlament oder auch zwischen Cameron und Juncker. Er kann insofern nicht als politische Normalität gelten, als hier eine neue Verfassungsordnung erstmals praktisch gelebt und ein Präzedenzfall geschaffen wird. Es ist allerdings durchaus faszinierend, was da geboten wird: David Cameron gelingt es auch als Vertreter eines der mächtigsten Mitgliedsstaaten nicht mehr, den gemeinsamen Institutionen seinen Willen aufzuzwingen. In einer Weise, die nur politisch naiv genannt werden kann, zieht er sich bzw. die Vertreter seines Landes aus Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozessen zurück, um dann deren Ergebnisse zu beklagen und mit der Brechstange aufhalten zu wollen. Dass er Ungewolltes nur noch durch Einmischung, nicht jedoch durch Verweigerung verhindern kann, ist jedoch eine weitere Illustration der Stärke, zu der die EU als institutionelles System gefunden hat.

Egal ob innen-, außen- oder personalpolitisch: Die Auseinandersetzungen gehen weiter. Konflikte werden in der Regel nur zu einem vorläufigen Ende gebracht werden und später wieder aufbrechen, so ist Politik. Herausforderungen werden immer wieder auf uns zukommen. Was zählt ist, dass anstehender Streit immer wieder offen angegangen und mit immer neuer Energie ausgetragen wird. Im Vertrauen darauf, dass wir in der Europäischen Union bisher noch jedem Problem gewachsen waren, weil wir uns aufeinander verlassen können und weil die Vertreter von 28 Nationen einen riesigen Erfahrungsschatz zusammenbringen. Mit einem neuen Parlament und bald einer neuen Kommission gehen wir in eine neue Runde. Mögen noch viele folgen.

Erschienen bei Capital Beat.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz

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