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Demokratie und Europa ernst nehmen

Europa und die liberale, offene, Demokratie sind zum Zankapfel geworden. Zwischen ihren Unterstützern und Gegnern tut sich ein Graben auf. Egal ob in Polen, in Großbritannien, in Österreich, in der Türkei oder zuletzt in Frankreich: Immer wieder sieht die eher etablierte, urbane, kulturell offene Hälfte der Gesellschaft ihre Überzeugungen herausgefordert von Menschen, die sich nach Einfachheit und Abschottung sehnen. Die Demokratie als die Möglichkeit zur Durchsetzung des Willens einer irgendwie homogen gedachten Gemeinschaft verstehen. Die Verständigung mit anderen als lästige Zeitverschwendung empfinden.

Unsere Gesellschaften zerreißen, wahrscheinlich mehr noch als es Einkommensunterschiede statistisch dokumentieren, und zwar europaweit. Die Gewinner des europäischen Projekts können und wollen auf das Erreichte nicht verzichten. Viele leben längst über Grenzen hinweg, erleben kulturelle Vielfalt als Bereicherung, sind in mehreren Sprachen zuhause. Sie profitieren von Reise- und Niederlassungsfreiheit, von offenen Grenzen, von der einheitlichen Währung in ihrem persönlichen Alltag. Aber es gibt auch andere, die sich vor allem unter Druck sehen, die für sich und ihre Kinder um den Zugang zur Arbeitswelt fürchten, die sich vom Eindringen fremder Sprachen, Kulturen und Menschen in ihren Alltag bedroht fühlen. Sie verschmähen die Demokratie, die Entscheidungen produziert, die sie nicht wollen. Und sie verschmähen Europa gleich mit.

Unser Problem sind weit weniger diejenigen, die komplexen Problemen mit schlichten Lösungen beikommen wollen. Nationalisten, die in einer verwirrend bunten Welt etwas Heimeliges zu erschaffen versuchen, hat es immer gegeben. Als Demokraten müssen wir sie ertragen. Im Wettstreit um Lösungen sind sie regelmäßig unterlegen.

Das eigentliche Problem ist, dass so viele sich gegenwärtig ungehört, unverstanden und zurückgelassen fühlen. Dass es den Verführern so leicht gelingt, relevante Teile der Gesellschaft hinter sich zu versammeln. Dass sich durch den Einsatz von Hetze und Lüge sowie falschen Versprechungen Mehrheiten erringen lassen, ohne tatsächliche Problemlösungen anbieten zu müssen.

Den Nationalisten wird man ihre Anhängerschaft nur wegnehmen können, indem man ihre destruktive Grundhaltung bloßstellt. Indem man die Befürchtungen und Ängste in der Bevölkerung aufgreift und allen die Erfahrung vermittelt, dass sie Teil des demokratischen und europäischen Machtspiels und damit relevant sind. Indem man beweist, dass unsere Vorstellung von Politik besser funktioniert, weil sie den Interessen wirklich aller gerecht wird. Einfach ist das nicht – aber erforderlich.

Das heißt zum einen: Wir müssen die Demokratie wiederbeleben, oder vielleicht lebendiger machen, als sie es je gewesen ist. Erwartungshaltungen haben sich schließlich ebenso verändert, wie technische Möglichkeiten. Das heißt zum anderen aber auch: Wir müssen Europa ernst nehmen. Da wir alle voneinander abhängig sind, muss Einmischung viel öfter grenzüberschreitend sein. So kann zur Erfahrung vieler werden, was bislang Privileg weniger gewesen ist.

Wenn die Freiheit von Journalisten beeinträchtigt wird, dann ist das eine Herausforderung aller Journalisten und erfordert eine gemeinsame Antwort. Wenn Forschung und Lehre in ihren Rechten beschnitten werden sollen, ist Solidarität aller Forschenden, Lehrenden, Studierenden und ihrer Institutionen gefragt. Die Furcht vor Arbeitslosigkeit und der fehlende Zugang zu Beschäftigung ist ein Thema, bei dem Gewerkschaften im europäischen Verbund viel mehr bewegen können, als besonders Betroffene allein. Unternehmensverbände sind ja schließlich ebenfalls vernetzt.

Dort, wo Interessengruppen auf tatsächliche Herausforderungen reagieren, haben sie Relevanz oder gewinnen diese zurück. Dort, wo grenzüberschreitende Netzwerke gemeinsam handeln, muss Politik aktiv werden. Dort, wo Politik gemeinsame Lösungen braucht, müssen diese ausgearbeitet und durchgesetzt werden. Dort, wo man diese Herausforderungen grenzüberschreitend angeht, wird Parteiarbeit besonders interessant. Vor allem aber gilt: Dort, wo jede gesellschaftliche Gruppe und Schicht Aufmerksamkeit erhält sowie demokratische Relevanz und europäische Solidarität erlebt, verlieren Vereinfacher und Rattenfänger ihren Ansatzpunkt.

Es kommt nun darauf an, dass unsere demokratische Gesellschaft und unser Europa die Vitalität beweisen, sich aus der Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten heraus weiterzuentwickeln. Dazu brauchen wir lebendige Interessengruppen, anregende Diskurse und ausgleichende Dialoge – über Grenzen hinweg.

Geschrieben als Beitrag zum EBD-Telegramm zur Zukunft der EU.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz

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