Allgemein europäisch

Flüchtlingskrise: Überheblichkeit ist uneuropäisch

FlüchtlingskriseWenn man sich anschaut, wie Europäer im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise über Europäer reden, wird einem Angst und bang. Ähnlich wie vor einigen Wochen, als vermeintlich verantwortungslose Lebenskünstler vermeintlich rücksichtslosen Regelfetischisten gegenüberstanden, läuft nun die Trennlinie zwischen vermeintlich kaltherzigen Egoisten und vermeintlich hirnlosen Gutmenschen.

Immerhin gruppiert uns die neue Krise neu, was auf nur scheinbar absurde Weise dem Zusammenhalt der Union sogar dienen könnte. Für den Moment aber dominiert das Erlebnis fundamentaler Entfremdung.

Bei näherem Hinsehen fällt zweierlei auf: Erstens sind wir alle offenbar sehr gerne bereit, unseren Emotionen freuen Lauf zu lassen und uns in Stereotypen zu suhlen. Unhinterfragt und unbedacht sind alle mit schnellen Urteilen bei der Hand. Gerade das Unverstandene wird zum Akt des kollektiven Wahnsinns erklärt. Zweitens finden die wesentlichen Diskussionen in nationalen Öffentlichkeiten statt. Woanders Diskutiertes und für relevant Gehaltenes bleibt ebenso unbekannt wie die Gründe für unterschiedliche Wahrnehmungen und Interessen, was herablassende Empörung massiv begünstigt.

Wir alle beklagen den Grenzzaun der Ungarn. Dass es weit höher Barrieren exakt gleichen Zwecks um die spanischen Enklaven Ceuta und Mellia gibt, dass sich auch Estland und Lettland an ihrer Ostgrenze mittels eines Zauns abschotten wollen und dass Griechenland seit Jahren und im Konsens auch mit unserer Regierung die Grenze zur Türkei in ähnlicher Weise „schützt“, bleibt merkwürdig unbeachtet. Wobei insbesondere letzteres entscheidend dazu beiträgt, dass die bei uns ankommenden Flüchtlinge sich zuvor in der Regel auf eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer begeben mussten. Auch haben uns über viele Monate ähnlich katastrophale Zustände in süditalienischen Lagern und auf griechischen Inseln zu keinerlei Reaktionen veranlasst – erst bei den symbolträchtig verknüpften Begriffen „Flüchtlinge“ und „Ungarn“ regte sich der deutsche Drang zum Handeln.

Nichts davon macht die europäische Werte mit Füßen tretende ungarische Regierung sympathischer. Unsere selektive Wahrnehmung und einseitige Haltung macht es Gegnern der Flüchtlingsaufnahme aber umso leichter, Kritik zu zerpflücken und ihren eigentlichen Kern herunterzuspielen. Dazu trägt auch bei, dass in Mittelosteuropa aufgenommene Flüchtlinge aus der Ukraine unsererseits in der Regel ebenso unbeachtet bleiben wie die Tatsache, dass Orban aktuell unwiderlegbar derjenige ist, der eindeutig gefasstes europäisches Recht buchstabengetreu umzusetzen sucht, während die Bundesregierung es – aus hehren Motiven! – bricht.

Nur wenn sämtliche Fakten auf den Tisch gepackt werden und jede Seite Gelegenheit erhält Schwierigkeiten präzise zu benennen und klare Lösungsvorschläge zu formulieren, sind gemeinsame Positionen erreichbar. Im übrigen enttarnt gerade die Zwang, konstruktive Vorschläge zu liefern, Illusionäres. Wer würde ernsthaft darlegen können, eine unbegrenzte Aufnahme und Integration sei möglich? Oder umgekehrt: Eine Abschottung vor jeglichem Zuzug sei machbar?

Auf Dauer wird die Flüchtlingskrise nur zu bewältigen sein, wenn Europa insgesamt sich „ehrlich“ macht. Nur ein in sich stimmiges Gesamtkonzept kann beanspruchen, von allen mitgetragen zu werden. Und erst wenn einzelne Partner klare rote Linien benannt haben, kann man auf dieser Basis einen Interessenausgleich suchen.

Damit dies möglich wird, müssen wir alle, also auch die organisierte Zivilgesellschaft, zu einem konstruktiven, auf Lösungen bedachten und Rationalität fordernden Klima beitragen. Mit emotionsgetriebener Stimmungsmache hingegen (und dazu gehört auch unreflektiertes Moralisieren) würden wir mithelfen, unser Europa kaputt zu machen.

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Autor

Diplom-Ökonom, Diplom-Politologe, MSc. in European Accounting and Finance Geschäftsführer bei polyspektiv, Vorstandsmitglied bei der EBD Wohnhaft in Berlin und in der Pfalz

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